Lasst uns jetzt eine neue Kultur erschaffen.

Was interessiert es mich, wenn in China ein Sack Reis umfällt? Du erinnerst dich? Das war vor einiger Zeit eine recht oft benutzte Metapher dafür, dass uns im Westen das Reich der Mitte einfach nicht interessierte. Doch die Zeiten änderten sich. Im Januar 2017 hörte ich in einem Vortrag bei den Waldecker Winnerdays, dass man dem Sack via Internet nunmehr live beim Umfallen zusehen könne. Das fand ich plausibel und sogar beeindruckend. Globalisierung und Digitalisierung at its best! Zur gleichen Zeit platzte das mittelchinesische Wuhan aus allen Nähten. Seit 1950 hatte sich die dortige Bevölkerung laut offizieller Quellen verachtfacht. Warum? Weil die Provinz Hubei mit seiner Hauptstadt Wuhan einer der bedeutendsten Industriestandorte in China wurde. Nahezu alle großen deutschen Unternehmen unterhalten in der dortigen Region eine verlängerte Werkbank. Bosch, Volkswagen, BMW, Daimler, Siemens,…

Megacities
Die neu geschaffenen Industriekomplexe und die darin arbeitenden Beschäftigten brauchten Platz zum Arbeiten und zum Leben. Auf die Natur wurde dort keine Rücksicht genommen. Warum auch? Der chinesische Kader-Kapitalismus sorgte für ein exponentielles Wirtschaftswachstum. Das brachte Prosperität ins Land und entwickelte eine enorme Sogwirkung für die chinesische Landbevölkerung, die zunehmend ihr Glück in der Stadt suchte. Die Traditionen des ländlichen Lebens waren aber damit nicht ad acta gelegt. Ganz im Gegenteil: Nachfrage schafft Angebot. Demzufolge entstanden Märkte, auf denen regionale Küche und der Bedarf hierfür feilgeboten wurde. Was auf einem Grill in Fernost landet, entsprächt aber eher weniger westlichen Vorstellungen. Krokodil, Stachelschwein, Fuchs, Schlange, Fledermaus. Geschmäcker sind eben verschieden.

Du bist, was du isst
Es gibt verschiedene Theorien, wie SARS-CoV-2, auf den Menschen überspringen konnte. Ein Tier jedoch spielt in jedem Erklärungsversuch eine wichtige Rolle: die Fledermaus. Da brauchen wir uns nicht darüber aufzuregen. Wie kann man nur Fledermäuse essen? Ich lade dich zum Perspektivwechsel ein: Was denkt wohl ein Inder darüber, dass wir im Westen Kühe essen? Wie gesagt: Geschmäcker sind verschieden. Falls dich mehr dazu interessiert: In einem sehr gut recherchierten Artikel beschreibt Michael Merz, Chefredakteur der Umweltperspektiven, unter anderem die Zusammenhänge zwischen Fledermäusen und der Gefahr einer Übertragung mutierender Coronaviren auf den Menschen. Den genauen Mutationsweg des Virus kennen wir noch nicht. Was aber jetzt schon klar ist: Die äußerst dynamische Entwicklung Wuhans, die dortigen Essgewohnheiten und die extrem vernetzte Welt sind der Beginn einer Seuche, deren Bedeutung für uns Menschen bis zum heutigen Zeitpunkt noch nicht vollends klar ist.

China war weit weg
Über alle medialen Kanäle konnten wir mitverfolgen, wie sich Schlangen an Wuhans Apotheken bildeten, wie Straßen abgeriegelt wurden und das öffentliche Leben der dortigen Bewohner zum Erliegen kam. Der Sack Reis war in aller Öffentlichkeit umgefallen. Digitalisierung und Globalisierung at its best. Wir haben es gesehen und weitergeklickt – oha! Der Flick hat seine Bayern wieder gut im Griff! Respekt!!1! Spätenstens mit den ersten Corona-Fällen bei Webasto wäre ein konsequentes Handeln angezeigt gewesen. Doch wir taten fast nichts. Warum denn auch? China war weit weg und „die da oben“ werden das schon im Auge behalten. Mit mir hat das nichts zu tun. Selbst dann nicht, wenn mich aus Italien flehentliche Appelle der Ärzte an unsere Solidarität erreichen. Klick.

Wir sind der Sack Reis
Heute wissen wir mehr, aber noch lange nicht alles. Und: Lamento bringt jetzt nichts! Stattdessen ist nun die Zeit des Denkens und Handelns angebrochen. Wir dürften mit COVID-19 verstanden haben, dass jeder einzelne von uns Teil des Systems Erde ist und nicht nur Zuschauer auf den Nachrichtenportalen. Mein Verhalten hat Auswirkungen. Wenn ich zum Beispiel möchte, dass meine Großeltern und die meiner Freunde noch ein langes, erfülltes Leben vor sich haben, dann sollte ich jetzt die Maßgabe des physical distancing und die Grundregeln der Hygiene einhalten. Mache ich das nicht, müssen wir alle mit unerwünschten Folgen rechnen, ob ich will oder nicht. Das haben die meisten verstanden, sodass sich daraus binnen weniger Tage eine völlig neue Alltagskultur etablieren konnte. Beim Bäcker gibt es nun Scheiben, die die Mitarbeiter schützen, im Supermarkt halten wir Abstand an den Kassen und selbst beim Joggen atmen die Läufer bewusst in eine andere Richtung, wenn sie Spaziergänger überholen. Das Virus ist in unserem kollektiven Bewusstsein angekommen und: ich kann etwas tun. Wir haben also verstanden: Der Sack Reis, das bin auch ich!

Glokalisierung
Die Pandemie hält uns den Spiegel der Globalisierung vor, die in uns eine Hybris entstehen ließ, dass wir ihre Risiken einfach vergessen hatten. Ich bin mir sicher, dass wir diese Seuche meistern werden. Ich bin mir sicher, dass wir in der Nachbetrachtung zu ganz wunderbaren Ergebnissen kommen werden. Ich bin mir sicher, dass wir in eine neue Form des WIR erschaffen. Leonhard Zintl veröffentlichte im vergangenen Februar ein Buch mit dem Titel: Zukunft einfach machen. Darin singt er Loblieb auf die dezentrale Wirtschaftswelt und die Genossenschaft als Rechtsform. Tun sich viele kleinteilig organisierte Einheiten zusammen, entsteht eine unheimlich flexible und zugleich schlagkräftige Form des Wirtschaftens. Ein ökonomisches Modell, das das Kleine und das Große simultan im Blick hat. Global denken, lokal handeln. Schon 1998 beschrieb der schottische Soziologe Roland Robertson dieses Phänomen unter dem Schlagwort Glokalisierung. Ich finde, das ist mehr als nur einen Gedanken wert.

Future your culture
Systeme funktionieren stetig und ohne Unterlass. Jeden Tag, ja jede Sekunde habe ich die Gelegenheit, diesen Organismus in meinem Sinn positiv zu beeinflussen. Denn ich weiß ja: Auch mein Nichtstun hat Auswirkungen. Diese historischen Corona- Monate geben uns die Gelegenheit, Gutes noch besser zu machen und weniger Gutes wegzulassen. Wir alle haben Zeit geschenkt bekommen, uns Gedanken über unser Miteinander, unsere Kultur und unseren Umgang mit Mutter Erde zu machen. Lasst uns vorausahnen, vorauswünschen, vorausriechen, vorausschmecken und natürlich auch vorausdenken. Nachdem die ersten turbulenten Tage der Quarantäne nun geschafft sind, habe ich mir folgendes überlegt. Ich möchte meinen Beitrag leisten, indem ich

  1. mich als semestergeschädigter Akademiker in der Krise solidarisch zeige und helfe, wo und wie ich kann. Sei es als Erntehelfer, als LKW-Fahrer, als Nachbarschaftshelfer, als Regaleinräumer oder als Online-Coach,
  2. bewusst immer wieder Impulse setze und die öffentlich zur Diskussion stelle,
  3. gemeinsam mit euch wie Leonhard Zintl die Zukunft einfach mache.

Zuversichtlich. Mutig. Entschlossen. Denn nie war die Zeit besser dafür als jetzt. Wir haben in Fülle, was wir brauchen

Bleib gesund und future your culture!

Dein Matthias

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